Eiermanns Erbe: Architektur oder Erinnerungslast?

Teilnehmer:innen des Seminars zum Thema Architektur-Journalismus schreiben über das Erbe des Architekten Egon Eiermann.

Im Seminar „Städtebauliche Typologien – Werkstatt Architektur-Journalismus: Wir schreiben über Architektur“ beschäftigen sich Studierende an der Professur Stadtquartiersplanung mit Architekturjournalismus. Geleitet wird das Seminar vom Redakteur und Bauhistoriker Ulrich Coenen. Das Seminar richtete sich an Masterstudierende der Architektur und des Bauingenieurwesens.

Die 17 Teilnehmerinnen und Teilnehmer recherchierten im Sommersemester unter Anleitung und verfassten journalistische Beiträge zu Themen aus Architektur, Stadtplanung und Denkmalpflege. Geübt werden dabei verschiedene journalistische Darstellungsformen wie Interview, Architekturkritik und Fachbuchrezension.

Eine der Aufgaben im Semester war dem Architekten Egon Eiermann gewidmet. Der wohl bedeutendste und einflussreichste Architekt der deutschen Nachkriegszeit lehrte von 1947 bis zu seinem Tod im Jahr 1970 an der Fakultät für Architektur des heutigen KIT. Ein Hörsaal sowie eine Straße in Karlsruhe tragen heute seinen Namen.

In ihren Reportagen sind die Studierenden der Frage nachgegangen, wie präsent Eiermann heute noch an der Fakultät ist. Sie haben zudem kritisch untersucht, ob die Benennung eines Hörsaals und einer Straße nach einem Architekten angemessen ist, der im sogenannten Dritten Reich die Grundlage für seinen späteren Erfolg legte.

Hier sind drei Reportagen aus verschiedenen Blickwinkeln zu lesen.

Luna Baumgärtner
Eiermanns Erbe: Architektur oder Erinnerungslast?
Reportage lesen
Eiermann ist für Karlsruhe ein Symbol der Nachkriegsmoderne, für Studierende jedoch oft nur ein Name auf einem Schild. Ist die Ehrung noch gerechtfertigt?
Es ist Montagmorgen am Karlsruher Institut für Technologie. Im Eingangsbereich des Architekturgebäudes herrscht reges Treiben. Studierende mit Kaffeebechern und halboffenen Rucksäcken drängen zum Egon-Eiermann-Hörsaal. Neben der Tür hängt sein Namensschild, doch kaum jemand wirft einen Blick darauf. „Eiermann? Wer war das eigentlich?“, murmelt jemand. Die meisten zucken nur mit den Schultern und betreten den Hörsaal. Der Name bleibt zurück – unbeachtet und doch hallt die Frage im Raum.
Egon Eiermann (1904–1970) prägte die deutsche Architektur der Nachkriegszeit wie kaum ein anderer. Zwischen 1933 und 1945 legte er den Grundstein für seinen späteren Erfolg in der jungen Bundesrepublik. Seine Werke, vom Deutschen Pavillon in Brüssel bis zu Verwaltungs- und Industriegebäuden, verbinden funktionale Klarheit mit eleganter Leichtigkeit. Sie sind geprägt von Glas, Stahl und offenen Räumen. Seine Gebäude wirken fast transparent, ein Gegenentwurf zur schweren, repräsentativen Architektur der NS-Zeit. Auch sein eigenes Wohnhaus in Baden-Baden zeigt diese Prinzipien. Ein Hanghaus mit differenzierten Ansichten, lichtdurchfluteten Räumen, klarer Struktur und akribisch gestalteten Details. Ab 1947 lehrte Eiermann als Professor an der Fakultät für Architektur in Karlsruhe und formte über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg Generationen von Studierenden.
Doch Eiermanns Karriere ist nicht unproblematisch. Während der NS-Zeit nahm er Aufträge für Industrie und Wehrmacht in Berlin an. Politisch aktiv war er nicht, doch die Arbeit für das Regime wirft moralische Fragen auf. Besonders seine Mitwirkung an der großen Propagandaausstellung „Gebt mir vier Jahre Zeit!“ im Jahr 1937 auf dem Berliner Messegelände wird kritisch gesehen. Dort inszenierte das NS-Regime die vermeintlichen Erfolge der ersten Regierungsjahre Hitlers. Architektur und Gestaltung dienten dabei als Mittel, um die propagandistische Botschaft visuell zu verstärken. Auch Eiermanns Bau einer Kaserne gehört zu den umstrittenen Projekten. Anders als bei seinen Industrie- und Fabrikgebäuden, in denen er seiner modernen, funktionalen Handschrift treu blieb, passte er sich hier den Vorgaben des NS-Regimes an und wich von seinem Stil ab. Diese Widersprüchlichkeit zeigt die Ambivalenz seiner Karriere, da er sich einerseits den Auftraggebern anpasste und andererseits an einer modernen Architektursprache festhielt.
Die Entscheidung, Aufträge anzunehmen, spiegelte eine verbreitete Praxis wider. Wie viele seiner Zeitgenossen stellte er sein Gewissen hinten an und passte sich den Rahmenbedingungen des Regimes an. Karriere und Überleben standen in Konflikt mit ethischer Distanz. Eiermann war kein Ideologe wie Albert Speer, sondern ein Architekt, der Aufträge annahm, um sein Büro zu sichern. Diese Ambivalenz prägt noch heute die Diskussion um die angemessene Erinnerung.
Am KIT bleibt sein Erbe präsent und allgegenwärtig. Wer durch die Räume der Fakultät geht, sitzt unweigerlich auf seinen Hockern, nutzt seine Tische oder betritt den Hörsaal, der seinen Namen trägt. Und doch: Viele junge Studierende haben kaum eine Vorstellung, wer hinter dem Namen steckt. Damit stellt sich die Frage: Soll ein Hörsaal noch seinen Namen tragen oder ist eine solche Heldenverehrung heute überhaupt noch gerechtfertigt? Auch im Stadtbild Karlsruhes ist sein Name sichtbar. Mit der Egon-Eiermann-Allee ehrt die Stadt einen Architekten, der die Nachkriegsmoderne entscheidend geprägt hat. Die Benennung zeigt, dass seine Rolle über das KIT hinaus als identitätsstiftend wahrgenommen wird und macht die Diskussion um den angemessenen Umgang mit seinem Erbe noch komplexer.
Lisa Alberti, Architekturstudentin im Master, sagt, sie kannte Eiermann vor dem Studium kaum, im Bachelor habe er keine große Rolle gespielt. „Ich habe den Hörsaal einfach hingenommen. Ob der Name noch passt? Ja, wahrscheinlich.“ Für sie bleibt er eher ein Name auf Stühlen, Gestellen und eben neben dem Hörsaal.
Ganz anders sieht es Matthias Zöller, Honorarprofessor für Fachgerechte Detailplanung an der Architekturfakultät und Bausachverständiger, der selbst am KIT studiert hat. Er hebt vor allem Eiermanns architektonische Haltung hervor: „Eiermann wollte keine Heldenverehrung. Seine Architektur war leicht, transparent, funktional, völlig anders als die schwere Nazibauweise. Die Erinnerung an ihn ist angemessen, aber nicht als Heldentum. Es geht um seine Baukunst, nicht um moralische Überhöhung“. Er verweist auf die historische Realität. Viele Architekten aus Eiermanns Generation nahmen Aufträge im NS-Staat an, nicht aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit. Sie waren somit laut Zöller unpolitisch, sie wollten bauen. Erinnerung sei wichtig, sagt Zöller, aber man müsse unterscheiden zwischen Gedenken und Heldenverehrung. Der Name neben dem Hörsaal sei für ihn daher keine Glorifizierung, sondern ein historischer Anker.
Auch Julian Knopp, Junior-Architekt und ehemaliger Student am KIT, bringt eine weitere Perspektive ein. Ihm war die Verbindung zwischen der NS-Zeit und Egon Eiermann zunächst nicht bekannt, weshalb er den Namen des Hörsaals einfach akzeptierte. Gleichzeitig wirft er die Frage auf, ob es überhaupt noch zeitgemäß sei, Hörsäle nach Architekten zu benennen: „Müssen es wirklich immer Architekten sein, oder könnte man Hörsäle auch nach etwas anderem benennen? Schließlich trägt ein kleinerer Hörsaal im Obergeschoss auch keinen anerkannten Architektennamen.“
Eiermanns Einfluss ist subtil, aber spürbar. Möbel, Tische, Stühle in den Räumen, wie im Hörsaal „Grüne Grotte“. Alles kleine Zeugnisse eines Architekten, der bis ins Detail dachte. Seine Idee von moderner Architektur wirkt in Lehre und Praxis weiter. Für die Stadt Karlsruhe ist Eiermann ein Symbol der deutschen Nachkriegsmoderne. Für Studierende bleibt er oft ein Name auf einem Schild, während er für die Fakultät ein Lehrmeister und damit Teil ihrer Identität ist. Eine Figur, die den Bruch mit der NS-Architektur sichtbar machte.
Die Debatte über die Namensgebung zeigt: Erinnerung ist wichtig, Heldenverehrung hingegen problematisch. Eiermanns Werke verbinden Ästhetik mit Pragmatismus, zeigen einen Architekten, der seine Baukunst bewusst in die Realität seiner Zeit einbettete und dabei die Balance zwischen moralischem Anspruch und beruflicher Praxis suchte.
Doch die Frage bleibt: Ist es heute noch angemessen, dass Karlsruhe und das KIT seinen Namen so präsent tragen? Vielleicht braucht es weniger eine Umbenennung als vielmehr mehr Kontext. Ein Hinweis im Hörsaal, eine kleine Ausstellung, eine Diskussion im Studium. Damit aus dem Namen ein Stück Geschichte wird, das nicht nur übersehen, sondern auch verstanden werden kann.
Denn Egon Eiermann ist weder reiner Held noch bloßer Mitläufer. Er ist ein Symbol für die Ambivalenz, die Erinnerungskultur aushalten muss: bewundernswert im Werk, problematisch in Teilen seiner Biografie, und gerade deshalb ein Name, der zum Nachdenken anregen sollte.
Finn Jäger
Ein Schweigen, das Fragen aufwirft
Reportage lesen
Der Fall Egon Eiermann und die Frage nach Verantwortung
 Die Vorlesung hat bereits begonnen. Leicht verspätet betrete ich durch den Hintereingang den Egon Eiermann Hörsaal. In der letzten Reihe finde ich einen Platz, setze mich hin und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Weg hierher bin ich an den Eiermann-Schreibtischen im Zeichensaal vorbeigekommen. Klare Linien, vertraut, fast streng. Anders als in meinen üblichen Bauingenieur-Räumen scheint hier jedes Detail auf Ästhetik bedacht. Reduzierte Formen, stille Eleganz. Die Schreibtische wirken wie eine Mahnung an das, was Eiermann hier als Professor damals lehrte: Schönheit als Notwendigkeit, nicht als Zugabe.
In einer vorherigen Vorlesung wurde der Werdegang Eiermanns vorgestellt. Ich erinnere mich, dass er zu den bedeutendsten deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts gehört. Geboren bei Berlin, studierte er Architektur an der TH Berlin-Charlottenburg. Schon seine frühen Bauten bis 1930 trugen eine klare modernistische Handschrift. Ab 1931 machte sich Eiermann mit einem eigenen Architekturbüro in Berlin einen Namen. Seine Wohnhäuser jener Jahre hatten zwar, dem Zeitgeist gehorchend, meist ein flach geneigtes Satteldach, doch blieben sie in ihrer klaren Formensprache freier und moderner als die zeittypische Heimatschutzarchitektur.
Nach der Vorlesung griff ich zu Ulrich Coenens Buch Eiermann in Mittelbaden, das Eiermanns Tätigkeit während und nach der NS-Zeit detailliert aufarbeitet. Coenen widmet sich darin unter anderem den Jahren 1933 bis 1945.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste auch ein moderner Architekt wie Eiermann seinen Weg finden. Eiermann konzentrierte sich daher auf Industriebauten und private Wohnhäuser, wo der Gestaltungsspielraum etwas größer blieb. Allerdings bedeutete dies keineswegs, dass Eiermann in Opposition zum Regime stand. Entgegen mancher Legende war er kein Widerstandskämpfer gegen die Nazis, er arrangierte sich vielmehr mit den Machtverhältnissen.
Die Forschung betont inzwischen deutlich, dass Eiermann, wie viele Deutsche in jener Zeit, sein Gewissen hintanstellte, um beruflich erfolgreich bleiben zu können. So arbeitete er 1937 an der großen Propaganda-Ausstellung „Gebt mir vier Jahre Zeit“ mit, einer Leistungsschau des Regimes. Die Grenzen zog er dabei weniger bei der Frage, für wen oder zu welchem Zweck er baute, sondern vielmehr bei der künstlerischen Vertretbarkeit seiner Entwürfe. Eiermanns Hauptbetätigungsfeld wurde im Dritten Reich der Industriebau, wo moderne Sachlichkeit toleriert wurde, solange sie den Zielen des Regimes diente. Zusammengefasst legte Eiermann zwischen 1933 und 1945 fachlich den Grundstein für seinen späteren Ruhm in Westdeutschland, um den Preis moralischer Kompromisse.
„Eben noch im Einsatz für den ‚Totalen Krieg‘ waren die deutschen Architekten nach 1945 nahtlos am Aufbau der Bundesrepublik beteiligt“, schreibt Coenen.
Nach Kriegsende fand Egon Eiermann erstaunlich rasch zurück ins Berufsleben, ein Hinweis darauf, wie sehr seine moderne Haltung nun positiv umgedeutet wurde. Dass Eiermann in kürzester Zeit wieder so aktiv sein konnte, lag auch daran, dass er politisch nicht belastet erschien. Er war kein prominenter Nazi-Architekt gewesen und konnte glaubhaft machen, im Dritten Reich nur gebaut, aber keine Ideologie verbreitet zu haben. So galt er vielen als der richtige Mann für den Wiederaufbau. Tatsächlich wurde Eiermann „der Mann der Stunde“ im Nachkriegsdeutschland und avancierte in den 1950er und 1960er Jahren zur Ikone des westdeutschen Wiederaufbaus. Eiermann galt damit vielen als Hüter einer modernen, menschlichen Architektur, fern von den Monumentalbauten der Nationalsozialisten.
In Karlsruhe wurde Eiermann zu einer prägenden Lehrpersönlichkeit. Mit seinem jovialen, optimistischen und gleichzeitig fordernden Unterrichtsstil machte er die Architektur-Fakultät rasch zu einer der beliebtesten des Landes.
Auf der offiziellen Website des KIT findet sich ein eigener Beitrag zu Egon Eiermann. Dort heißt es knapp: „Von 1931 bis 1945 ist er als selbständiger Architekt in Berlin tätig.“ Mehr wird über diese Jahre nicht gesagt.
Hier sitzend beschleicht mich das Gefühl, dass wenig Interesse besteht, die Vergangenheit Eiermanns kritisch zu beleuchten. Mein Blick wandert durch den Raum, doch keine Tafel, kein Hinweis, kein erklärender Satz, der sein Wirken während der NS-Zeit thematisiert. Stattdessen bleibt ein Schweigen, das Fragen aufwirft. Gerade hier wird spürbar, wie schwer es uns fällt, die Geschichte in all ihren Zwischentönen anzunehmen. Nach der NS-Zeit wurden die schaffenden Architekten in zwei Lager unterteilt. Auf der einen Seite die Helden der Moderne, deren klare Formen als versteckter Protest gedeutet wurden, fast als heimliche Auflehnung gegen das Regime. Auf der anderen Seite die Vertreter des klassischen Stils, abgestempelt als Systemtreue, als Überzeugungstäter, die man bestrafen oder zum Schweigen bringen musste.
Ich lehne mich zu meiner Sitznachbarin hinüber und frage leise nach ihrem Bild von Egon Eiermann. Carolin Stolz, Architekturstudentin, antwortet, sie habe sich schon im Vorjahr mit ihm beschäftigt und aus Interesse weiter recherchiert. So sei ihr die Problematik bewusst geworden. Vorher habe sie Eiermann nur mit seinem Baustil verbunden. Es betrübe sie, dass nicht mehr für eine kritische Einordnung getan werde, dabei ließe sich dies, so Stolz, durchaus tun, ohne seine herausragenden Leistungen infrage zu stellen.
Etwas verdutzt dreht sich Anabel Rilling, ebenfalls Architekturstudentin, aus der Reihe vor uns um. Das habe sie überhaupt nicht gewusst. Im Studium sei ihr Eiermann bislang nie im NS-Kontext begegnet, wenn überhaupt, dann nur am Rande, und in der gängigen Erzählung als Rebell der Moderne. Eine wirkliche Rolle habe dieses Kapitel jedoch nie gespielt. Sie findet, es wäre ein spannender Ansatz, der innerhalb der Fakultät deutlich mehr Aufmerksamkeit verdienen würde, auch wenn ihr im Moment kein konkreter Rahmen einfällt, in dem sich dies umsetzen ließe.
„Warum überhaupt einen Hörsaal nach ihm benennen?“ meldet sich nun Stella Huck, Architekturstudentin. Sie habe sich zum Beginn ihres Studiums ebenfalls aus privatem Interesse mit Eiermann und dessen Geschichte befasst. Das Studium habe ihr dahingehend nichts vermittelt. Dies empfinde sie als klare Versäumung. Für sie zeige sich darin ein grundlegendes Problem der Architektur: Allzu oft werde das Werk vom Schaffenden getrennt.
Die Vorlesung ist vorbei, viel mitbekommen habe ich jedoch nicht, meine Gedanken kreisen weiter um die Frage, wie Eiermanns Werk und seine Vergangenheit ineinandergreifen. Beim Tasche packen erinnere ich mich an meinen verstorbenen Großvater Franz Josef Palm, welcher ebenso als Architekt in der Nachkriegszeit erfolgreich wurde. Zu jung, um unter den Nationalsozialisten schon bauen zu können, wurde er dennoch eingezogen und musste als Jugendlicher Fahrradkurier im Krieg auf ihrer Seite kämpfen. In der Nachkriegszeit profitierte auch er von seinem modernen Baustil und konnte so sich und seiner Familie eine neue Existenz aufbauen. Wie viele seiner Generation musste auch er sich seinen Platz in einer Welt suchen, die sich nach dem großen Schock neu erfinden musste.
Wie aber hat mein Großvater damals die Rolle der Verantwortung gesehen? Hat er Eiermann bewundert? Wusste er um dessen Arbeiten im Nationalsozialismus? Und wenn ja, hätte er sie verurteilt?
Und überhaupt: Dürfen wir aus heutiger Sicht über jene Zeit urteilen, in der schon der Versuch, eine moralisch „richtige“ Haltung zu bewahren, leicht mit dem Tod bestraft wurde? Mit diesem Gedanken verlasse ich den Hörsaal, auf dem Weg hinaus bleibt mein Blick ein letztes Mal an den Eiermann-Schreibtischen hängen, die in ihrer makellosen Funktion leider keine Antwort bereithalten. Zurück bleibt nur ihr anmutiges Äußeres.
Xinyue Yu
Egon Eiermann zwischen Architektur und Vergangenheit
Reportage lesen
 Karlsruhes Blick auf Egon Eiermann
Der Frühling 1958 in Brüssel war optimistisch und nicht mehr so trist wie die Kriegsjahre zuvor. Auf das Gelände der Weltausstellung strömten Besucher durch gläserne Passagen und blieben vor dem deutschen Pavillon stehen. Sie sahen keine monumentalen Steinsäulen und keine heroischen Reliefs, sondern zwei schwebende Quader aus Stahl und Glas. Die Konstruktion von Egon Eiermann und Sep Ruf wirkte leicht und offen. Das Sonnenlicht drang ungehindert ins Innere. Die internationale Presse sprach von Transparenz, Offenheit und einem neuen Geist. Nur 13 Jahre zuvor war Deutschland noch in Schutt und Asche versunken. Nun präsentierte es sich als moderner und friedlicher Akteur auf der Weltbühne. Doch es blieb die Frage, ob diese gläserne Hülle wirklich Klarheit schuf oder ob sie gerade dadurch verdeckte, was man nicht sehen sollte.
Von Brüssel nach Karlsruhe
Zurück in Karlsruhe, wo Egon Eiermann fast zwanzig Jahre lang als Professor an der damaligen Technischen Hochschule, dem heutigen KIT, unterrichtete: Sein Name begegnet einem hier auf Schritt und Tritt. Im Architekturgebäude sitzt man im Egon-Eiermann-Hörsaal, und wer in den Westen der Stadt fährt, läuft oder radelt irgendwann über die Egon-Eiermann-Allee. Für viele Studierende ist das so selbstverständlich wie die Straßenbahn oder die Mensa, doch kaum jemand denkt dabei an die Biografie des Architekten.
Stimmen vom Campus
Ein Karlsruher Architekturstudent hat sich intensiv mit Eiermann beschäftigt. Er betont, dass Eiermann kein Mitglied der NSDAP war. Zwar habe er Aufträge im nationalsozialistischen System ausgeführt, sogar unter Albert Speer, aber fast alle Architekten hätten damals für das Regime gearbeitet. Seine Architektur habe sich jedoch deutlich von der propagandistischen Bauweise der Nationalsozialisten unterschieden. Statt massiver Monumente habe Eiermann funktionale und minimalistische Bauten mit offenen Formen geschaffen. Für ihn sei Eiermann vergleichbar mit Le Corbusier, beide seien umstritten, beide prägend. Deshalb findet er es angemessen, dass ein Hörsaal und eine Straße seinen Namen tragen. Gleichzeitig sei es wichtig, seine Rolle in der NS-Zeit nicht zu verschweigen.
Eine Studentin der Kunstgeschichte sieht es ähnlich, aber vorsichtiger. Sie sagt, es sei in Ordnung, solange die Menschen auch lernen, dass Eiermann eine Vergangenheit mit der NS-Zeit hatte. Architektur und Geschichte dürften nicht voneinander getrennt werden.
Eine andere Architekturstudentin betont, dass sie bisher kaum Berührung mit Eiermann hatte. Überrascht habe sie seine Nähe zum NS-System nicht, da viele Architekten in dieser Zeit verstrickt waren. Wichtig sei es, diese Vergangenheit nicht zu verharmlosen. Sie schlägt vor, beim Hörsaal eine Infotafel anzubringen, die auch diese Seite seiner Biografie zeigt.
Deutlich kritischer äußert sich eine Studentin der Bühnenkunst. Sie kannte Eiermann vorher nicht, findet es aber befremdlich, dass man Hörsäle und Straßen nach jemandem benennt, der im NS-System gearbeitet hat. Vergessen dürfe man das nicht.
Rückkehr zu Eiermann
Die Stimmen zeigen, wie vielschichtig der Blick auf Eiermann ist. Für die einen ist er ein Architekt der Moderne, für andere ein Name, der Fragen aufwirft. In Karlsruhe bleibt er sichtbar: im Alltag, auf Straßenschildern, an der Tür zum Hörsaal. Gerade deshalb stellt sich hier die Frage besonders deutlich: Was bedeutet Erinnerung heute? Und wie offen sind wir bereit, mit ihren Schatten umzugehen?
Kommentar: Wege und Reihenfolgen der Erinnerung
Egon Eiermanns Nachkriegsarchitektur vermittelte mit Glasfassaden ein Bild von Transparenz und Offenheit, blendete aber zugleich Teile der Vergangenheit aus. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Zeigen und Verschweigen prägt auch die Erinnerungskultur.
In Deutschland hat sich eine abstrakte Form des Gedenkens etabliert. Das Jüdische Museum in Berlin mit seinen scharfen Einschnitten und das Holocaust-Mahnmal mit seinen endlosen Betonquadern sprechen durch Leere, Dunkelheit und Abwesenheit. Nichts wird erklärt, und gerade dadurch entsteht Wirkung.
In China dagegen setzt man auf Direktheit. Das Nanjing-Massaker-Memorial zeigt Fotos der Opfer, persönliche Gegenstände, Knochenfunde. Auch das Museum zur Einheit 731 konfrontiert Besucher ohne Umwege mit dem Schrecken. Keine Metaphern, kein Verstecken, sondern eine schonungslose Klarheit.
Doch Erinnerung folgt nicht nur unterschiedlichen Formen, sondern auch unterschiedlichen Reihenfolgen. Gedenken, Anklage und das spätere Verblassen sind Stationen im Umgang mit Vergangenheit. Entscheidend ist, in welcher Ordnung sie erscheinen. Ein Täterland muss zunächst ehrlich gedenken und öffentlich anklagen, bevor es zur Beruhigung und Neutralisierung übergehen kann.
Japan zeigt ein Gegenbeispiel. Dort fehlt eine umfassende Erinnerungskultur für ausländische Opfer, im Unterricht wird die Aggression verharmlost, im Yasukuni-Schrein werden sogar Kriegsverbrecher geehrt. Deutschland hat dagegen eine Haltung entwickelt, die international als vorbildlich gilt, weil Architektur und Bildung Anklage und Gedenken miteinander verbunden werden.
Zwei Wege der Erinnerung, zwei Ordnungen des Umgangs mit Geschichte. Abstraktion kann zum Nachdenken zwingen, Direktheit macht das Grauen unausweichlich. Doch Erinnerung darf niemals bequem sein. Sie muss unbequem bleiben, sonst wird Geschichte zur Kulisse und damit zur Gefahr für die Zukunft.
Villa Eiermann in Baden-Baden
Eiermanns bekanntestes Wohngebäude: Die Villa für die eigene Familie baute der Karlsruher Architektur-Professor in den Jahren 1959 bis 1962 in Baden-Baden. Dort lebte er bis zu seinem Tod 1970.

 

Ehemaliges Versuchskraftwerk der TH Karlsruhe von Egon Eiermann
In der Karlsruher Innenstadt gibt es nur ein Gebäude von Egon Eiermann. Es ist das ehemalige Versuchskraftwerk der TH Karlsruhe, erbaut 1951 bis 1956. Es befindet sich auf dem Campus Süd des KIT-Geländes.
Fassade des Verlagsgebäude von Burda Moden in Offenburg, nach dem Entwurd von Egon Eiermann
Das Verlagsgebäude von Burda Moden in Offenburg entstand ab 1953 in zwei Bauabschnitten nach einem Entwurf von Egon Eiermann.

Weitere Beiträge aus dem Seminar „Städtebauliche Typologien – Werkstatt Architektur-Journalismus: Wir schreiben über Architektur“:

Betonpoesie oder ein Baukulturproblem?

Vom Bahnhof in die Geschichte: Baden-Baden zwischen Welterbe, Verkehrsanbindung und urbaner Identität