Heavy Rotation – Das Wiederkehrende in der Architektur
In loser Folge veröffentlichen wir an dieser Stelle Beiträge aus dem Diskurs-Teil des aktuellen Jahrbuchs der Fakultät. Darin widmen sich Mitglieder der Fakultät der Bedeutung zyklischer Prozesse in der Architektur.
Kreisläufe, Kontinuen und Spiralen – Hat Architektur noch Zukunft?
»Die Zukunft hält nicht mehr, was sie einmal versprochen hatte, die Gegenwart ist unübersichtlich geworden und die Vergangenheit gibt keine Ruhe und kehrt in vielfältigen Gestalten zurück.« ↘ 1
Die Frage nach dem Wiederkehrenden in der Architektur ist nicht ausschließlich eine Frage nach den Gebäuden, Methoden, Materialien und Konzepten, die wiederkehren, sondern eröffnet erweiterte Fragestellungen: Vor welchem Hintergrund gewinnen Konzepte der Wiederkehr gegenwärtig eine solche Konjunktur? Was macht die Attraktivität von Zyklen und Kreisläufen im aktuellen Diskurs aus? Das Phänomen lässt sich vielgestaltig belegen und wird in der Architektur vor allem in der Gegenüberstellung zur Moderne des frühen 20. Jahrhunderts deutlich.
Dass das Neue zunächst dem Alten zu bevorzugen sei, markierte einen der Wesenszüge der Moderne, insbesondere im frühen 20. Jahrhundert. Dies manifestierte sich im Neuen Bauen ebenso wie in der Neuen Stadt, der Neuen Wohnung, der Neuen Zeit oder gar dem Neuen Menschen. So forderte Bruno Taut beispielsweise 1924 die Frau auf, sich »dem unendlichen Krimskrams und Gerümpel, [… der] Atavismen, Erinnerungsreste der Großvaterzeit und dem Fetischismus der Gegenstände« zu entledigen, zugunsten der Überwindung der Tyrannei des Leblosen ↘ 2. Mit Sehnsucht blicken wir heute auf die Kraft und Wirkmächtigkeit dieser Epoche. Dem aktuellen Bauhaus-Hype anlässlich seines Jubiläums schwingt eine eigenartige Zukunftsnostalgie mit, gegenüber einer Zeit, in der man sich noch auf einen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt verlassen konnte.
Der Glaube an eine von Architekt*innen geplante bessere, neue Zukunft ist hingegen schon lange verloren. Die gegenwärtige Konjunktur des Wiederkehrenden findet sich in den unterschiedlichsten Bereichen: In Ablehnung des alten Neuen entsteht in den Innenstädten eine Retrozukunft in Gestalt von Altstadt-Rekonstruktionen und Schinkelismen; das Prinzip des Ewigen und Wiederkehrenden verspricht Sicherheit und Gültigkeit. Das Phänomen taucht jedoch ebenso in dem zunehmenden Interesse an handwerklichen, lokalen Baumethoden sowie Konzepten und Experimenten des Materialrecyclings auf. Als weiteres erstaunliches Beispiel hat die Verschärfung sozialer Fragen den Ruf nach Bodenreform und Enteignung, der spätestens mit dem Untergang der Sowjetunion endgültig begraben schien, von den linken Bürgerforen bis in das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung getragen. ↘ 3 Alte Ideen, Bilder und Methoden sind wieder aktuell und werfen die Frage auf, warum der Glaube an das Progressive verblasst ist.
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts fand ein Paradigmenwechsel statt, der heute aus der Retrospektive, klar erkennbar ist. Während die 1960er-Jahre mit der Mondlandung und den Studentenrevolten noch voller Visionen und Hoffnungen waren, entwickelte sich in der Folge eine immer stärker werdende Skepsis gegenüber dem sogenannten Fortschrittsimperativ der Moderne. Dieser offensichtliche Sinneswandel in der Gesellschaft, der sich auch durch die genannten Beispiele in der Architektur ausdrückt, wird in den Geisteswissenschaften eingehend thematisiert ↘ 4. Während sich die Gegenwart noch nicht so klar und deutlich offenbart, sind sich die Akteur*innen des Diskurses darüber einig, dass das Zeitregime der Moderne keine Gültigkeit mehr besitzt. Vor diesem Hintergrund fragt Aleida Assmann, ob die Zeit aus den Fugen geraten sei. Sie beschreibt damit nichts Geringeres als den Aufstieg und auch Fall einer Zeitordnung, welche sich ab dem 17. Jahrhundert immer stärker herausbildete und letztendlich im ausgehenden 20. Jahrhundert durch vielfältige Entwicklungen seine Gültigkeit verloren hat:
»Die Zukunft als sichere Orientierung und glänzende Versprechung, ja Verheißung, die den eigenen Plänen und Zielen eine klare Richtung wies – das war einmal. Diese Zukunft ist längst Vergangenheit geworden.« ↘ 5
Sie führt diesen Kursverfall der Aktie Zukunft auf Faktoren zurück wie den fortgeschrittenen Ausbau der technischen Zivilisation, den ungebremsten Ressourcenverbrauch, die Umweltverschmutzung, die Verknappung von Trinkwasser, den Klimawandel sowie auf demografische Probleme wie Überbevölkerung und Überalterung. Die Zukunft sei somit von einem Gegenstand der Erwartung und Hoffnung zu einem der Sorge geworden. So verwundert es nicht, dass sich der Blick der Vergangenheit und dem schon mal Dagewesenen zuwendet.
Wenn Assmann fragt, ob die Zeit aus den Fugen geraten sei, deutet sie damit darauf hin, dass die vormalige Ordnung durcheinandergeraten ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch vormoderne Zeitordnungen wieder in Erscheinung treten. Das aktuelle Interesse an Kreisläufen greift in seinem Wesen auf mittelalterliche Erfahrungshorizonte zurück. Lucian Hölscher beschreibt das damalige Leben und damit auch die möglichen Zukunftsvorstellungen als Annahme einer ewigen Wiederholung des Gleichen. »In Kreisläufen vollzogen sich Aussaat und Ernte, die Folge der Kirchenfeste mit ihren feststehenden jahreszeitlichen Gebräuchen, die Folge der Lebensalter und das Zusammenleben der Generationen […]« ↘ 6. Der gleichwohl hohe Bedarf an Zukunftswissen wurde in erster Linie durch Horoskope und Wahrsagungen gestillt. Wie sehr sich der gesamte Erfahrungshorizont von dem unsrigen unterschied, veranschaulicht Hölscher an einem Beispiel aus den Bekenntnissen des Augustinus ↘ 7. Um dem Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft näher zu kommen, fragte dieser aus welchem Versteck das Zukünftige hervortrete, wenn es gegenwärtig würde und in welches Versteck es danach wieder verschwinden würde. Augustinus verfügte, so Hölscher, noch nicht über einen Begriff von Zeiträumen. Erst Entwicklungen wie die Entdeckung der Zentralperspektive und somit eines Raumkontinuums ermöglichten es uns, die Zeit ebenfalls als Kontinuum zu begreifen.
Was bedeutet es nun jedoch, wenn eben jenes Kontinuum in unserer schwierigen Gegenwart wieder zur Disposition steht? Als Ausweg schlug Bruno Latour bereits 1991 ein anderes, und zwar spiralförmiges Zeitmodell vor. So könnten Elemente »die entfernt scheinen, wenn wir der Linie der Spirale folgen, […] sich sehr nahe beieinander wiederfinden [lassen].« ↘ 8 Hans Ulrich Gumbrecht hingegen spricht von einer breiten Gegenwart, in der wir durch den Verlust einer Zukunft als offenen Horizont und der neuerlichen Speicherkraft elektronischer Medien von der Vergangenheit überschwemmt würden und in ein Zeitmilieu der Simultanität, Statik und Stagnation verdammt seien. ↘ 9 Während Aleida Assmann diese Diagnose teilt, zieht sie einen weniger dystopischen Schluss und sieht die Aufgabe, die Zeitstufen neu zu ordnen, als eine der größten Herausforderungen und als offenes Abenteuer. »Die Kultur erzeugt nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft, [...] Die Vergangenheit hat ihre Qualität verändert, aber auch die Zukunft ist nicht mehr, was sie war. Die entscheidende Frage ist deshalb nicht mehr ausschließlich: Was wollen wir von der Vergangenheit und Zukunft, sondern inzwischen immer öfter auch: Was will die Zukunft, was will die Vergangenheit von uns?« ↘ 10
Auch in der Architektur sind sowohl die Aufgaben als auch die Perspektiven der Gegenwart und Zukunft immens: Stadtentwicklung, Klima, Migration, Teilhabe, Mobilität, Überalterung hier und Bevölkerungswachstum dort sind nur einige Themen, die im Großen und Kleinen zu behandeln sind. Zur Gestaltung der vielen komplexen Zukünfte der Architektur und der Städte stehen neue Technologien und Möglichkeiten zur Verfügung. Gerade diese Breite unserer Gegenwart, in der so vieles Platz hat, bietet sich für die Entwicklung neuer Lebens- und Architekturformen an. Seit einiger Zeit entstehen an verschiedensten Orten Initiativen, die Fragen der Gemeinschaft, der Öffentlichkeit und der Teilhabe neu verhandeln und verwandeln dabei Städte wie Berlin, Amsterdam, Zürich oder Wien zu Laboratorien möglicher und alternativer Zukunft ↘ 11. Viele Städte entwickeln Konzepte zum Umbau der Infrastruktur und Mobilität, in denen Aspekte wie Lebensqualität, Stadtklima und Nachhaltigkeit stärker Berücksichtigung finden ↘ 12. Auch hier gibt es Vorreiter wie etwa Kopenhagen oder Straßburg. Das mögliche Betätigungsfeld ist allerdings noch sehr viel größer: Wie gewährleisten wir politisch die Teilhabe aller am städtischen Raum? Auf absehbare Zeit werden viele Flächen in den Innenstädten zur Verfügung stehen, da sich der Einzelhandel auf Onlineplattformen verlagert. Wofür werden wir diese Flächen nutzen? Wie und in welchen Räumen verbringen wir unsere Lebenszeit, wenn die zunehmende Automation unsere Arbeitskraft überflüssig macht? Vernetzung bietet hier die Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs und der Verhandlung. Die alte Zeit mag aus den Fugen sein, aber deswegen müssen wir uns noch lange nicht in ein vormodernes Zeitdenken oder in eine überkommene Fortschrittsnostalgie flüchten. Dafür ist die Gegenwart doch viel zu spannend!
Fußnoten: