Heavy Rotation – Das Wiederkehrende in der Architektur

In loser Folge veröffentlichen wir an dieser Stelle Beiträge aus dem Diskurs-Teil des aktuellen Jahrbuchs der Fakultät. Darin widmen sich Mitglieder der Fakultät der Bedeutung zyklischer Prozesse in der Architektur.

Der Lauf der Dinge

von Prof. Meinrad Morger

Haus Trancauna Lumbrein, Graubünden, Schweiz, 2006–2010, Morger Partner Architekten Basel

 

Das Wiederkehrende in der Architektur ist dann von Interesse, wenn das Wiederkehrende weder als Wiederholung noch als Kopie, sondern vielmehr in verwandelter Form erscheint: Denn das Leben befindet sich in einem stetigen Fluss, die Architektur in einem fortlaufenden Prozess. Der Kunstfilm Der Lauf der Dinge der Schweizer Künstler Peter Fischli (1952) und David Weiss (1946 – 2012) erzählt in anarchischer Form davon. Dargestellt wird der konti­nuierliche Fortgang einer Art Nonsens-Maschine, der am Anfang in Gang gesetzt wird und eine Kettenreaktion nach der anderen auslöst, wobei ein Element jeweils einen Bewegungsimpuls an das nächste weitergibt. Jedes Ende eines Vorgangs ist gleichermaßen der Anfang eines neuen, wobei nie sicher ist, ob und wie es überhaupt weiterläuft: Wie im wirklichen Leben. Der Lauf der Dinge hat mich inspiriert von wenigen prägenden Ereignissen zu erzählen, die meinen eigenen Lauf zum Architekten mitbeeinflusst haben.

Angeregt von meiner Großmutter, einer engagierten Rheintaler Mundartdichterin, erfolgte der erste Impuls vor weit über vierzig Jahren. Sie berichtete unermüdlich über ihren Großonkel Johann Georg Müller (1822 – 1849). Der Architekt, Maler und Dichter war nach den Worten des Historikers und Universitätsprofessors Adolf Reinle einer der schöpferischsten Schweizer Architekten, welcher, obwohl bereits in jungen Jahren verstorben, ein umfangreiches Werk hinterließ. Durch Großmutters Vermittlung waren mir seine Publikationen schon früh vertraut und hinterließen eine tiefe Wirkung. Seine Schaffensphase lag in einer Zeit, in der sich die Architektur vom Einfluss der historischen Vorbilder loszulösen begann. Der Klassizismus als wiederkehrende Kopie antiker oder mittelalterlicher Archetypen wurde von Johann Georg Müller abgelehnt. Er suchte nach einem Stil, der für seine Epoche einen spezifischen Ausdruck finden und in der jeweiligen Entstehungszeit ver­­ortet sein sollte: »Wir wollen keine Monumental­architektur, die der Zukunft beweise, die Deutschen des 19. Jahrhunderts hätten den Stil der Griechen oder die mittelalterliche Gotik sehr verehrt und je eine dieser Entwicklungsstufen der Architektur­geschichte treu kopiert, sondern wir erstreben Monumente, die unseres Glaubens und Wissens, unserer Sitte und Natur Verherrlichung werden, kurz, jetzt wie in der fernsten Zukunft sollen dieselben unserer Zustände getreues Abbild und bleibende Vermittlung sein.« ↘ 1 Architektur als Seismograf kultureller, gesellschaftlicher und politischer Prozesse zu ver­stehen, hatte mich dazumal zum ersten Mal schwer beeindruckt. Architektenpersönlichkeiten, die diesem Credo folgten, gaben mir immer wieder Orientierung. 

Ich bin in der Stadt St. Gallen aufgewachsen. Nach der Primarschule besuchte ich die Klosterschule. Mein Klassenzimmer befand sich ein Geschoss über der weltberühmten barocken Stiftsbibliothek, in der der St. Galler Klosterplan, der vermutlich zwischen 819 und 826 n. Chr. im Kloster Reichenau entstand, auf­bewahrt liegt und aktuell seit April 2019 in einer Ausstellung überhaupt zum ersten Mal im Original zu besichtigen ist. Die Betrachtung der Faksimile Aus­gabe gehörte zu unserer Schulbildung. Trotz dem Weg­zug vom katholischen St. Gallen ins protestan­tische Basel und von einem kulturell-religiösen in ein rein kulturell geprägtes Milieu, drückte sich der Klosterplan wie ein Palimpsest durch all meine Alters- und Entwicklungsschichten hindurch und zeigte mitunter seine eindringliche Wirkung. Das über­raschende Dokument, vom deutschen Kunsthistoriker Wolfgang Braunfels als die Utopie von St. Gallen benannt, ist der Plan eines karolingischen Idealklosters. Er stellt die einzige Architekturzeichnung Europas vor dem 13. Jahrhundert dar, auf der wir planende Vorstellungskraft dokumentiert sehen. Die monastische Lebensform ist organisiert wie eine Stadt. Neben seiner archaischen Substanz fasziniert mich das urbane Potential. Das Haus steht im unmittelbaren Kontext einer Stadtidee. 

Unsere Familie verbrachte während meiner ganzen Jugendzeit die Schulferien im Kanton Graubünden. Bei Wanderungen in Flims und Umgebung stießen wir auf weiße Häuser, die auf mich besonders wirk­ten. Zu der Zeit blieben sie mir jedoch noch ein Rätsel. 
Einige Jahre später bekam ich zu meinem 20 Geburts­­tag von meiner damaligen Freundin eine Buchpub­likation über das Werk von Rudolf Olgiati (1910 – 1995), die anlässlich der Ausstellung an der ETH Zürich 1977 herausgegeben wurde, geschenkt. Seine Architekturauffassung machte mich nachdenklich. 
Er hatte für sich die Bedeutsamkeit historischer Entwurfsgrundsätze für die Architektur der Moderne erkannt. Seine Bauten wurden epochale architektonische, kulturelle und intellektuelle Gedankengebilde. Die Beschäftigung mit Rudolf Olgiati und seinem sehr eigenständigen Werk führte mich ganz direkt zur wichtigen Bewegung Tendenza, die im gleichen Zeitraum im Nachbarkanton Tessin ihren Anfang nahm und große internationale Beachtung erlangte. Sie stellte eine außergewöhnliche Symbiose aus Ratio­nalismus, Moderne, Historie und Kontext dar. 
Einer der bedeutendsten Protagonisten war und ist Luigi Snozzi (1932). Auch er vertritt die Geschichte als Quelle des Neuen. In einem seiner bekanntesten Aphorismen sagt er, dass man Architektur nicht er­finden, sondern vielmehr wiederfinden muss. Gegen heftigen politischen Widerstand entwickelte er Strategien, um zersiedelte Gebiete, die ihre Identität verloren hatten, zu revitalisieren. Mithilfe verschiedener Einwirkungen ordnete er die Siedlungsstruktur und verstand es dem Ort eine neue Identifikation zu geben. Seine architektonische Sprache war dabei weder laut noch modisch, sondern vielmehr zurückhaltend, zweckdienlich und mit einer leichten Prise Poesie beseelt. Anfang der 1980er-Jahre führten mich mehrere Exkursionen in den Kanton Tessin und zu den Bauten der wichtigsten Tendenza-Vertreter. Die Besichtigungen und mensch­lichen Begegnungen haben meine weitere architek­tonische Entwicklung entscheidend beeinflusst. 

So führte mich ein wichtiger Kontakt aus dem Tessin nach Basel zum Architekten und Lehrer Michael  Alder (1940 – 2000) und zu seinen schnörkellosen Bau­ten. Als Dozent hat er wesentliche Forschungen ini­tiiert und publiziert. Primär hat sich Michael Alder mit Untersuchungen ländlicher und anonymer Architektur beschäftigt und anhand vorgefundener Strukturen, Typologien, Konstruktionen und Bilder, die über Jahrhunderte entstanden sind, Regeln einer Bau- und Siedlungskultur aufgezeigt. Ich wurde 1981 von ihm persönlich angefragt, mich an den Aufnahmen für eine umfangreiche Siedlungsentwicklungsarbeit über das Bergdorf Soglio zu beteiligen. Die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Typus Haus und einer Siedlungsform, die über Jahrhunderte gewachsen ist und durch die klimatischen, topografischen und kulturellen Gegebenheiten ein historisches Ge­füge von seltener Schönheit darstellen, wurde ein weiterer prägender Baustein auf meinem Weg zum Architekten. Im Anschluss an diese wertvolle Beschäftigung bekam ich die Möglichkeit bei Michael Alder in seinem Atelier zu arbeiten. Dies war auch der Moment, als ich definitiv nach Basel zog. Michael Alder war ein leidenschaftlicher Vertreter der sogenannten Neuen Einfachheit. Darunter verstand er jedoch nicht eine Einfachheit, die als formalästhetische Reduktion im Sinne der Minimal Tradition verstanden wird. Sein Interesse galt vielmehr dem Gewöhnlichen, Alltäg­lichen – dem Selbstverständlichen. Die Architektur, die er suchte, war nach seinen Worten »ein Hervor­holen von Urbildern, die wir alle in uns tragen«. Mir wurde bewusst, dass seine, die Vergangenheit be­fragende Methode nicht rückwärtsgewandt, sondern vielmehr eine fundierte typologische Untersuchung war, um kontinuierliche und konstante Antworten für den zukünf­tigen Haus- und Siedlungsbau zu erhalten.

Es war der Beginn meiner praktischen Tätigkeit als junger Architekt und der Moment, in dem ich zum ersten Mal überzeugt war, durch die Ausbildung, das Studium und vor allem durch diese essentiellen Begegnungen über genügend Stoff zu verfügen, um eine eigene architektonische Haltung formulieren zu können. Stoff, der in Analogie zum Film Der Lauf der Dinge nicht durch eine Abfolge von absehbaren Geschehnissen, sondern vielmehr durch nicht kalkulierbare und zufällige Erfahrungen, Erlebnisse, Anlässe, Episoden und Geschichten zusammenkam. Als Sub­strat verkörpert dieser eine Idee von Architektur, die wie das Wiederkehrende in der Architektur, als datierbare Zeitlosigkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. 

 

Fußnoten:

↘ 1
Geschrieben, um den Dom zu retten, Original fehlt; abgedruckt bei Ziegler, S. 8–11; bei Polasek,  S. 29–34 und bei Ninfa, S. 491–503.